Kein Räumungsanspruch gegen 97-jährige Mieterin
Die Vermieterin kündigte der schwerkranken und bettlägerigen Mieterin, die in dem Mehrfamilienhaus seit mehr als einem halben Jahrhundert eine Ein- sowie eine Dreizimmerwohnung angemietet hat.
Beschluss vom 9. November 2016 – VIII ZR 73/16
Die Vermieterin kündigte der schwerkranken und bettlägerigen Mieterin, die in dem Mehrfamilienhaus seit mehr als einem halben Jahrhundert eine Ein- sowie eine Dreizimmerwohnung angemietet hat. Ihr Betreuer bewohnte die Einzimmerwohnung, hielt sich aber aufgrund der umfassenden Pflege der Mieterin überwiegend in der Dreizimmerwohnung auf. Im Jahr 2015 äußerte dieser in mehreren Schreiben grobe Beleidigungen gegenüber der Vermieterin. Daraufhin erfolgte die fristlose Kündigung gegenüber der Mieterin.
Das Amtsgericht München hat die Räumungsklage der Vermieterin abgewiesen. Auf die Berufung der Vermieterin hat das Landgericht München I der Klage allerdings stattgegeben. Bei groben Beleidigungen liege die Unzumutbarkeit einer Fortsetzung des Mietverhältnisses für die Vermieterin auf der Hand. Hierbei müsse sich die Mieterin die Beleidigungen des Betreuers zurechnen lassen, da diese ihm die Wohnung überlassen hatte.
Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung des Landgerichts aufgehoben. Insbesondere bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen beziehungsweise Lebensgefahr seien die Gerichte bereits verfassungsrechtlich verpflichtet, diesen Gefahren bei der Abwägung der wechselseitigen Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Die Abwägung könne zur Folge haben, dass ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung wegen besonderer schwerwiegender persönlicher Härtegründe auf Seiten des Mieters trotz einer erheblichen Pflichtverletzung nicht vorliege. Hier hätte nach Ansicht der Karlsruher Richter das Landgericht dem Vortrag der Beklagten nachgehen müssen, wonach sie unbedingt auf die Betreuung durch ihren Pfleger in ihrer bisherigen häuslichen Umgebung angewiesen sei und bei einem Wechsel der Betreuungsperson oder einem Umzug schwerstwiegende Gesundheitsschäden zu befürchten habe. Der Bundesgerichtshof hat deshalb die Entscheidung der Vorinstanz aufgehoben und das Landgericht München zurückverwiesen.
Kommentar: Die Entscheidung der Karlsruher Richter ist richtig. Schwerwiegende Härtegründe sind bereits bei der Abwägung, ob das Erlangungsinteresse des Vermieters an der Herausgabe der Wohnung oder das mieterseitige Interesse an der Fortsetzung des Mietverhältnisses überwiegt, im Rahmen der Prüfung der Wirksamkeit der Kündigung zu klären. Würde diese Abwägung der Interessenlage erst nach einer Verurteilung auf Räumung der Wohnung im Vollstreckungsverfahren berücksichtigt werden, wäre die Rechtsposition des betroffenen Mieters erheblich geschwächt und es bestünde die Gefahr, dass trotz nachweislich bestehender erheblicher Gesundheitsgefährdungen unter Umständen lediglich ein Räumungsaufschub im Vollstreckungsverfahren gewährt würde. Dies führte bei einem ohnehin in seiner Gesundheit massiv eingeschränkten Mieter zu einer erheblichen Belastung aufgrund der Ungewissheit bezüglich des weiteren Verbleibs in der Wohnung.